Bettina Wilpert: „Herumtreiberinnen“

Wortkarg und desillusioniert über Leipziger Gewaltwelten

Institutionelle Gewalt in Romanen darzustellen ist nicht leicht. Die Sprache selbst, die Bewegung des Geschehens, ist ohne Bezugspunkt nicht zu denken. Dieser Bezugspunkt ist der Beobachter, die Beobachterin, die Ereignisse wiedergibt, Handlungen von Menschen an und gegen Menschen nacherzählt. Mit anderen Worten, die institutionelle Gewalt tritt hinter das Handeln. Die Machtstruktur, das was Michel Foucault das Dispositiv nennt, wird unsichtbar. Nur die Figuren treten auf, nicht die eingefahrenen Handlungsmuster, nicht die abgehärteten, kalten, toten Aktionen im Namen eines Prinzips, dem einzelne zum Opfer fallen. Bettina Wilpert versucht in Herumtreiberinnen die Konsequenz aus dieser Einsicht zu ziehen. Ihre Hauptfigur ist ein Gebäude, die Tripperburg in der Lerchenstraße in Leipzig, der Dreh- und Angelpunkt ihres neuen Romans:

Das Gelände war flach, und obwohl feste Mauern sie umgaben, war die Tripperburg keine Burg. Insgesamt verteilten sich auf dem Gelände vier Gebäude. Ein großes rotes Backsteinhaus stand direkt an der Straße. Schräg links dahinter und tiefer im Gelände, dessen Größe ich von der Straße aus nur erahnen konnte, sah ich zwei weitere, die barackenähnlich hintereinanderstanden. Später würde ich hinter dem Gebäude an der Straße noch ein viertes entdecken, kleiner und flacher als die anderen drei.

Bettina Wilpert aus: „Herumtreiberinnen“

Der Roman verfolgt den Lebensweg dreier Frauen, die jeweils in ihrer Zeit mit dem Gebäude auf diese oder jene Weise zu tun hatten: Lilo, 1945, als politische Gefangene; die siebzehnjährige Manja, 1983, wegen unerlaubten Geschlechtsverkehrs; Robin, 2016, als Sozialarbeiterin in einem Flüchtlingsheim. Alle erleben auf direkte oder indirekte Weise, wie Menschen Menschen misshandeln und Gewaltverhältnissen unterworfen werden, die jenseits ihrer Kontrolle liegen. Im Romangeschehen mindert sich die direkte Gewalt zunehmend und indiziert einen, mehr und mehr in Gefahr stehenden Fortschritt. Lilo gerät in politische Gefangenschaft durch ihren Vater, der kommunistische Agitation betreibt und von den Nationalsozialisten verfolgt wird und 1945 mit der Todesstrafe rechnen muss. Manja wird Opfer eines Systems, das mit rebellischen Jugendlichen nicht anders zu Rande kommt, als sie wegzusperren und körperlich zu misshandeln, und wird dann aber selbst übergriffig. Und Robin erlebt, wie schwer es Flüchtlinge in Deutschland haben, hat Mitleid mit ihnen und betäubt sich deshalb lieber auf Technoparties mit Ecstasy:

Allmählich wurde der Beat schneller, bis der DJ den Bass und die Lautstärke wieder aufdrehte, da war sie, die Erlösung – die Meute johlte in einer Stimme. Das E ballerte. Fritzi legte von hinten ihre Arme um Robins Hüfte, Haut auf Haut, die Berührung verstärkte die Wirkung der Drogen. Robin sah mit aufgerissenen Augen nach oben, über den Himmel blitzte ein riesiger Scheinwerfer, um ihm zu folgen, drehte sie ihren Kopf im Kreis. So schön.

Die Handlungsstruktur liegt auf der Hand – der geschichtliche Gang vom Schlimmsten zum Üblen zur Ignoranz, in der erneut die Gefahr der Wiederholung des Schlimmsten wächst. Der Roman wirkt wie auf dem Reißbrett geplant. Die Architektur, das Gebäude stehen geometrisch zur Handlung. Drei Zeiten. Ein Gebäude. Die Figuren werden lediglich in das Korsett gepresst, und zwar so lange, bis sie irgendwie passen. Nur Manja und ihre Freundin Maxie entfliehen diesem Lehrstückcharakter manchmal und erlauben sich intensive Momente der Freiheit während des Schule-Schwänzens, auf einem ausgedienten Lada Niva, inmitten eines Waldes, zwischen Sonnenschein, Blättergeraschel und einem glühenden, aufbegehrenden jugendlichen Aufbruchswunsch:

Maxie war nicht nur von Erika Mann, sondern auch von der Raumfahrt besessen, wobei wir ausgiebig darüber diskutiert hatten, ob besessen das richtige Wort sei, da Maxie es als zu negativ empfand, und ich meinte, es beschreibe ihren Zustand perfekt, die von nichts anderem redete, obwohl sie wusste, dass ich nicht besessen, nicht einmal begeistert, höchstens interessiert war. Maxie konterte, es sei ihr sehr wichtig, und man müsse auch Träume haben und ich, Manja, müsse sie als Freundin dabei unterstützen, ihren Traum zu verwirklichen: Die erste Kosmonautin der DDR zu werden.

Die Freundschaft zwischen Maxie und Manja bebt vor lauter Überschwang, Fröhlichkeit und Wagemut. Sie wollen reisen, die Welt sehen, trampen. Sie wollen ins Weltall fliegen, sich austoben, sich von nichts und niemandem bremsen lassen. Hier rennt jugendlicher Weltelan gegen eine prüde und öde Staatsmaschinerie an, die sich nur mit Polizei und Knüppeln und Medikamentierung gegen diese ausufernde Lebendigkeit und Spontaneität zu helfen weiß und nichts als Depression, Tristesse und Gegengewalt verursacht, denn so richtig auf dem Kerbholz haben weder Maxie noch Manja etwas, und doch werden sie wie geistig unzurechnungsfähige Schwerverbrecher behandelt. Kaum im Heim werden sie von den Schwestern, Ärzten und Mitinsassinnen gequält, zurechtgewiesen und drangsaliert, bis Gewaltexzesse ausbrechen und jeder gegen jeden kämpft:

Kerstin sprang Lui auf den Rücken, um sie von mir abzuhalten, so wurden wir ein Knäuel aus Körperteilen, Maxie sah einige Sekunden dem Körperball zu, dann sprang sie in den Kampf. Ich weiß nicht mehr, wer wo war, wir wurden ein einziger Körper, unsere alten vergaßen wir; auch unsere Geräusche vermengten sich zu einem einzigen Schrei, der uns befreite, endlich konnten wir alles, den Frust, die Wut, die Angst der letzten Wochen herausschreien, endlich brüllen, endlich Körperlichkeit, endlich Gewalt, die wir kontrollierten. Wir rollten im Schlafsaal umher, prallten gegen Betten, es zeichnete sich keine Siegerin ab, erst als Sascha den Raum betrat, wurden wir kurz wieder einzelne Atome.

In harten, kurzen Sätzen erzählt Wilpert von den Frauenschicksalen. Die Sätze bleiben kurz. Die Adjektive selten. Die Kapitel springen zwischen den Zeiten und unterbrechen jeden Lesefluss. Kurze atmosphärisch dichte Szenen verflüchtigen sich schnell, zudem unterminieren die Charaktere sich gegenseitig, werden mit zunehmender Lesedauer immer diffuser. Versteht man Manja noch am Anfang, versteht man sie am Ende immer weniger, und Robin gerät zur Persiflage ihrer selbst, wenn sie sich aufgrund ihrer selbstauferlegten Unentschiedenheit eine Gürtelrose an den Leib wünscht:

             Das Leben der Geflüchteten bestand aus unerfüllten Träumen, Robin beneidete sie: Die Familie nach Deutschland holen, Ärztin werden, studieren, in eine eigene Wohnung ziehen, eine Ausbildung zum Zahntechniker absolvieren, einen eigenen Friseursalon oder einen An- und Verkauf eröffnen. Robins einziger Traum war, jemand anderes zu sein. Sie wünschte, sie wäre Carrie Brownstein von der Band Sleater-Kinney. In deren Autobiografie las Robin, dass Carries großer Traum es auch nicht gewesen ist, in einer Band zu spielen und irgendwann große Stadien zu füllen. Das Tourleben stresste sie, davon bekam sie nur Gürtelrose. Robin wollte das auch: Dass ihr einfach so etwas passierte, dass sie in eine Leidenschaft hineinrutschte.

Der Versuch, ein Gewaltsystem zu beschreiben, gerät zur Satire. Das Gebäude erscheint gruselig, voller schrecklicher Ereignisse, eingeschliffen in den Boden Leipzigs als ein Monstrum, ein Mahnmal der Unmenschlichkeit, ohne jedoch die Täter in den Blick zu nehmen. Der kalte Stil eignete sich hervorragend, um Dr. Höcks gruseliger Apathie Ausdruck zu verleihen, oder die Schwester namens Kurbeldoris zu beschreiben, die die Insassinnen grausam physisch wie psychisch misshandelt. Das geometrisch graue Exakte von Wilperts Stil gereicht hier und da zu einer solchen Quadratur des Bösen. Raum für Menschliches ist schlichtweg nicht gegeben. Alle driften, treiben, kollidieren in den ihnen aufgedrängten Kanälen, Tunneln und Wegen. Statt jedoch die Häscher, Finsterlinge, grausamen Vollstrecker stärker in Augenschein zu nehmen, erzählt Wilpert im selbigen Stil von den Verfehlungen der Insassinnen selbst, wie sie sich gegenseitig quälen oder wie die kommunistischen Agitatoren in der Zeit des Nationalsozialismus sich gegenseitig verpfeifen, und wie engagierte Sozialarbeiterinnen Drogen nehmen, um ihren Alltag im Flüchtlingsheim zu vergessen.

Wir rissen Gisela zu Boden, im Kollektiv mussten wir nicht denken, wir wussten, was richtig war und taten es. Bambule, Bambule! Eine machte den nächsten Schritt, wir wissen nicht, wer von uns es war, aber ahmten es nach. Tritt, Tritt, Tritt. Unsere Füße handelten von allein, wir tanzten, hüpften von einem Fuß auf den anderen, holten dabei aus, holten Kraft. Das Bein schön nach vorne schleudern, manchmal verfehlten wir unser Ziel, waren zu hoch und landeten mit dem Fuß in der Luft, doch meistens trafen unsere Schuhe auf etwas Weiches. Schwester Gisela lag gekrümmt auf dem Boden und hielt ihre Arme schützend über ihren Kopf.

Es bleibt unklar, was Wilpert mit diesen Szenen erreichen wollte – Sympathie mit ihren Figuren zu erzeugen jedenfalls nicht, wenn diese plötzlich wie ein Mob über Wehrlose herfallen und auf sie eintreten. Am ehesten hält Lilos Geschichte den Roman zusammen. Ihr Schicksal, als Kind eines verfolgten, in der illegalen Untergrundarbeit tätigen Kommunisten trägt das verzweigte Netz ihrer kleinen Welt. Hoffnungen, Utopien, Verständnis und Frustration lösen einander ab. Sie hadert mit der Welt, aber nie gegen die anderen. Ihr Mut glänzt bis zuletzt selbst in der dunkelsten und erniedrigenden Wirklichkeit des Kerkers:

Lilo erfand ein Spiel: Sie ordnete jedem Gitterstab eine Frau zu und vergab Farben, die eine war türkis, die andere weinrot, birnengelb und so weiter. Mit diesem Spiel vertrieb sie sich die Zeit, die Frauen wirkten dadurch weniger bedrohlich, sie waren nur Gitterfarben. Lilo war die Jüngste in der Zelle und vermutete, dass sie die einzige Politische war. Die zwei Wochen in der Wächterstraße waren grauenhaft, die Zustände waren unzumutbar, sie schliefen wie Pinguine aneinander gedrängt, Lilo wünschte, sie wäre ein Igel, rollte sich auf dem Boden zusammen […]

Der Roman Herumtreiberinnen behält nicht den Fokus. Es wird nicht klar, worum es ihm wirklich geht. Für die vielen Erzählfäden wirkt er zu kurz. Für die Vielschichtigkeit der Perspektiven zu naiv. Für die Konzeption stilistisch zu unausgewogen, wenn in unterkühlter Sprache von der Leipziger Tristesse berichtet wird und plötzlich ein hymnischer Sophokleischer Chor die Herumtreiberinnen aller Zeiten beschwört und quasi als Brechtsches Lehrstück fungiert. Maxie verschwindet zeitweise ganz, und eine Nebenfigur erhält das längste Kapitel des ganzen Buches, Marion, die in die DDR-Prostitution hinabrutscht und von der Staatssicherheit instrumentalisiert wird. Völlig unnahbar bleibt Robin, die keinen Ort findet, nirgends, wo sie sich wohlfühlt und heimatlos durch die Seiten trottet, den Kopf schüttelt, am meisten über sich, aber auch ein wenig über die Welt. Die Mixtur wirkt wie ein Kessel Buntes, durchgeschüttelt und mit einem Achselzucken kalt serviert. Die entscheidenden Figuren bleiben unausgearbeitet im Hintergrund: Manjas Mutter, Lilos Vater, Robins Eltern; Dr. Höcks, Georg, der Stasi-Spitzel, und die Kurbeldoris.

In vielen dichten Momenten fängt Wilpert etwas vom jugendlichen Leichtsinn eines Ulrich Plenzdorf aus seinen Die neuen Leiden des jungen W. auf. Sie nähert sich auch dem tristen Blues von Katerina Poladjan in Zukunftsmusik. Mehr jedoch gemahnt Stil wie Inhalt an die frühen Romane von Christoph Hein, an Der Tangospieler und Der fremde Freund, an die Trostlosigkeit, das Verzweifeln inmitten von Plattenbauten und Betonköpfen. Heins Der Tangospieler handelt auch von der Inhaftierung, von der Willkür und den Folgen, eingesperrt zu sein. Der Protagonist Dallow sinniert, auf sich zurückgeworfen, nach seiner Entlassung über das Leben, die Zeit und Hoffnung, wieder fröhlich zu werden:

Aber das Gefängnis hatte ihn entlassen, diese Vergangenheit war beendet worden, von ihr aus konnte er keine Linien bis zu jenem großen und leeren Bogen Papier ziehen, auf dem seine Zukunft sich darstellen würde. Er hatte keine Vergangenheit, keine, von der aus er ein paar taugliche Schritte machen konnte, keine, die eine Fortsetzung erlaubte, die ihm künftige Entscheidungen abnahm, indem sie auf die allernatürlichste Art nur eine einzige Entscheidung zuließ. »Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft«, sagte er laut.

Christoph Hein aus: „Der Tangospieler“

Die Heimatlosigkeit schlägt sich nieder in Wortkargheit, Verdrossenheit und Desillusion. Wilpert wagt einen Drahtseilakt zwischen Agitation und Resignation. Sie wiegelt auf und entmutigt in einem – anders als Plenzdorf, der sich nichts sagen lassen will, und Hein, der sich alles sagen lässt, aber nichts glaubt. Herumtreiberinnen bleibt ein Formexperiment. Sehr oft riecht es nach „Birnen“ – häufig „reißt jemand den Mund auf“ – Formen sind immer „rechteckig“, „dreieckig“, oder „quadratisch“, aber in jedem Fall „länglich“ und „flach“ wie scheinbar alle Gebäude. Vieles wiederholt und doppelt sich und verspielt so nach und nach die Intensität, die sich ergeben hätte können. Nostalgisch blättert man irgendwann zurück zu den ersten Seiten voller Hoffnung und Esprit, als Maxie und Manja vor dem Fernseher hocken und zusehen, wie die erste Amerikanerin ins Weltall fliegt:

Sie haben nicht nur fünf Astronauten in den Weltraum geschossen, sondern werde auch die erste Amerikanerin im All in die Geschichtsbücher einschreiben. Bei diesen Worten, da bin ich mir sicher, lief Maxie ein Schauer über den Rücken, die Menge auf der Erde in Florida rief Ride, Sally, ride, und obwohl ich kaum Englisch verstand, mir die Bedeutung dieser Worte unklar war, spürte ich die Begeisterung der Leute. Der Nachrichtensprecher berichtete: Bevor die Astronauten Satelliten im Weltall aussetzten, hatte Sally Ride Houston gefragt: Ever been to Disneyland?

Und so konzipiert Wilberts Herumtreiberinnen den Plot als formales Gegenstück zu seiner eigenen Moral. Die zu starre Architektur übers Erzählte gepresst unterdrückt die lebendigen Impulse der Narration wie die Staatsmaschinerie Maxie und Manjas Lebensmut oder der Staatsterror Lilos Aufrichtigkeit und Freundlichkeit. Am Ende stehen alle mit leeren Händen und dem bangen Wunsch nach ein bisschen mehr poetischer Freiheit in den Herzen da.

tldr; eine Kurzrezension findet sich hier.

5 Antworten auf „Bettina Wilpert: „Herumtreiberinnen““

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