Ana Marwan: „Der Kreis des Weberknechts“

Wenn verkopfte Männer lieben …

Der Roman Der Kreis des Weberknechts beschreibt Immunisierungsstrategien. Er exploriert die Gedankengänge eines Mannes und einer Frau, die bereits einige Beziehungen gehabt haben, verbale Strategien kennen und das Miteinander mehr und mehr als Tanz, als Maskerade und Spiel begreifen. Ana Marwans Roman rückt der Kälte, der Angst, der Leere zwischen den Menschen entschieden auf den Pelz, indem sie unverblümt Hoffnungen wachsen und zugleich wieder vergehen lässt. In kurzen Abschnitten und wechselnden Erzählperspektiven gibt sie die Geschehnisse aus den Augen Karls und Mathildes wieder, schaltet und blendet zwischen Innen- und Außensicht über und bildet so ein ganzes Universum von Verblendung, Verwünschung und Verworrenheit ab.

„Worte, Worte, etc. …“ Sie nahmen kein Ende. Menschen scheinen sich mit dem Reden immer vom Denken ablenken zu müssen, stellte Lipitsch fest; und in jedem Wort, das er während seiner kurzen Reise hörte, fand er eine weitere Berechtigung für seine Abgeschiedenheit, deren warme Umarmung er kaum erwarten konnte.

Ana Marwan aus: „Der Kreis des Weberknechts“

Als Protagonist des Romans fungiert Karl Lipitsch, der sich in einem selbstgewählten Exil seinem Lebenswerk widmen möchte. Allein, von allen äußeren Umständen ungestört zielt er aufs Ganze. Er möchte die Welt und den Rest ergründen, logisch begreifen, begriffsanalytisch erfassen. Alles Zwischenmenschliche muss hierfür in den Hintergrund treten. Bereits im fortgeschrittenen Alter hat er keine Zeit mehr für Geplänkel und Geschwätz. Er zielt aufs Tiefe, Höhere, aufs Ontologische. Als ihn dann aber nach einem halben Jahr Einsamkeit die Nachricht ereilt, dass der Partner einer ehemals Geliebten gestorben ist, reist er zur Beerdigung, um nicht völlig aus dem Bedeutungshorizont seiner Mitmenschen zu verschwinden. Nach nur sechs Monaten, die ihn offensichtlich nicht näher an die Vollendung seines Lebenswerks gebracht haben, endet also seine selbstauferlegte Isolation und die Liebesaffäre mit Mathilde beginnt. Ihre Anwesenheit überfordert ihn schnell.

„Und welche Erkenntnisse haben Sie [Lipitsch bei ihrer Arbeit] gewonnen, wenn ich fragen darf?“

Sie kommt sich ganz charmant vor; dieses Lächeln, diese Augenbrauen, lauter Bögen und Kurven …. Aufdringliche Frau.

Mit Unbehagen musste Lipitsch an diesem Punkt auch feststellen, dass er keine Antwort auf ihre Frage parat hatte. Nachdem er mit der Menschheit Schluss gemacht hatte, rechnete er nicht mehr damit, neue Antworten liefern zu müssen.

Marwans abgeklärte, ja nüchterne Diktion kennt offensichtlich keine Gnade mit Karl. Sie begegnet ihm auf Augenhöhe, nämlich beinahe mathematisch, formallogisch und kongruent. Sie vermisst ihn, beobachtet ihn, wie er sich selbst beobachtet, als Fremder, als Marionette von Kräften, denen er nicht Herr zu werden vermag und deshalb leugnet. Ihm geschieht alles von außen, und so tastet die Sprache Marwans ihn dann auch ab, im Stil von Aphorismen, Aperçus, in kleinen Häppchen, die nicht zueinanderfinden, weil sie sich einbilden, nichts voneinander zu wissen. Marwans Roman liest sich wie der Bericht eines Literatur-begeisterten Privatdetektivs, der Zugang zur Innen- und Außenschau Karl Lipitschs besitzt und alles aufzeichnet, was diesen umtreibt, und protokolliert, wie dieser sich langsam in ein willenloses Geschöpf verwandelt.

Es war also ganz verständlich, dass Lipitsch in der darauffolgenden Zeit ein Wartender wurde. Er wartete auf die Glocke. Die Glocke war bis jetzt nur von der einen Person betätigt worden, von der Richtigen. Es war mehr Mathildes Glocke als seine. Wenn sie klingelte, sabberte er, aber nicht wegen des Essbaren, das sie oft brachte – der Sinn ist hier etwas übertragen, obwohl es schon stimmte, dass er ihr Hund war.

Der Eindruck eines zoologischen, oder gar exobiologischen Berichts ist gewollt. Die Erzählerin lässt sich auf Karl, auf seine Gedanken ein, aber springt auch aus ihnen wieder heraus, erörtert, zieht in Abwägung, beschreibt und begründet danach ihre Wortwahl. Richtig auf die Schliche, also einen Reim auf Lipitsch kann sich weder sie noch Mathilde machen. Die Sonderbarkeit entsteht durch Karls windschiefe Selbst- und Fremdwahrnehmung, die zwar erahnt, erkennt, aber dann illusionäre Schlüsse zieht, die ihm nicht weiterhelfen, das Herz seiner Angebeteten zu erobern noch ihn ins rechte Licht zu rücken.

Die Verliebtheit, die manchmal nach der Auswahl [seiner Partnerinnen] aufgetreten war, deutete er mit der endlosen Kraft seiner Phantasie. Anders gesagt: Einem geschickten Maler gleich machte er aus einer leeren Leinwand, die eine Frau in ihrem Inneren war, ein würdiges Bild, das er in seinen Tagträumen bis ins kleinste Detail perfektionierte, bis es an das äußere Erscheinungsbild sowie an sein Herz gewachsen war. Er stellte eine Pawlow’sche Verbindung zwischen dem Gesicht der Frau und seinen Träumereien her, sodass er bei ihrem Anblick sofort zu sabbern begann. Davon war er fast überzeugt.

Im „fast“ liegt der Schlüssel. Karl ist zu selbstreflektiert, um sich seine eigenen Lügengeschichten wirklich abzukaufen, aber er ist emotional nicht bereit, die Konsequenzen zu ziehen, deshalb sucht er weiter nach einer Geschichte, einer Beschreibung, einer Weltformel, die ihn letztlich vielleicht doch überzeugt und jeden Zweifel nehmen wird. Im Grunde genommen ist er nämlich nicht Mathildes Hund, sondern der seiner Gedanken und Illusionen, die er kraft unausgesetzter Introspektion zu er- und begründen sucht. Er ist mithin sein eigener Gefangener, schweift in einem selbstfabrizierten Begriffslabyrinth voller Selbst- und Fremdansprüchen herum und beklagt die Enge und Leere, ohne sich jedoch von ihnen verabschieden zu können oder zu wollen.

Es gab natürlich ab und zu Momente, in denen er eine große Leere spürte. Manchmal wusste er nicht genau, ob er von ihr umschlungen wurde, oder war sie in ihm. Jedes Mal jedoch, wenn er einen Ausflug unter Menschen unternahm, sehnte er sich nach ihr, als ob sie ganz eindeutig etwas Gutes wäre.

Die Metaphysik nimmt die Form einer intellektuellen Affenfalle an, mit der Karl sich selbst fängt. Marwan spürt dieser seltsamen Eigenart Karls nach, nicht loslassen zu können, aus Gier oder Sicherheitswunsch an Begriffen, Oppositionen und Konstellationen so lange festzuhalten, bis sich die Erlösung in Form von Klarheit und Wahrheit auf ihn herabsenkt. Hierzu dienen die den Text durchziehenden Dualismen: Frau/Mann, Natur/Gesellschaft, Tier/Mensch, Zufall/Logik, die den Gedanken in ihren Bann halten, einen Kreislauf, eine ewige Wiederkehr der immer gleichen Ausreden erzwingen und diese wie Planeten um eine dunkle Sonne kreisen lassen. Marwan erlaubt sich alle sprachlichen Freiheiten, dieser Gefangenschaft Ausdruck zu verleihen. Es gelingt ihr mit schnellen, hastigen Gedankenfetzen, Andeutungen, Hiatus-artigen Gesprächen und nie zu Ende beschriebenen Situationen. In Karls Gedankenwelt endet nämlich nichts. Alles läuft vor und zurück, hat sich bereits ereignet und wird sich ereignen, wie er sich es ausgemalt hat. Sein Geist unterscheidet strukturell nicht mehr zwischen Vergangenheit und Zukunft:

Und plötzlich passierte es: Der enge Rahmen des Augenblicks zersprang, dehnte sich aus in beide Richtungen und auf einmal erinnerte sich Lipitsch seiner Zukunft. Ja, so ist es: Das, was einmal Zukunft war, ist jetzt Vergangenheit und umgekehrt!

Das Erstaunliche an Der Kreis des Weberknechts besteht in dem Grad der Glaubwürdigkeit. Karl wirkt nicht verrückt. Er wirkt viel zu bekannt, gewöhnlich, unheimlich durch seine Alltäglichkeit. Die Selbstimmunisierungsstrategien runden plausibel ineinander, ohne ein Ganzes zu ergeben. Er wird nicht pathologisiert. Marwans Stil wertet auch nicht vorsätzlich. Sie gewährt Karl Raum, sich zu entfalten, nur nutzt er ihn nicht. Lieber verwehrt und versperrt er ihn sich, und zwar durch Zwangsgedanken und selbstauferlegten Denkunmöglichkeiten.

Er [Karl] lächelte innerlich. Er war noch nicht so weit, darauf verzichten zu können, seine neu entdeckte Freiheit auszukosten. Dabei hatte er theoretisch einen größeren Respekt vor einem freigelassenen Vogel, der auf dem Baum sitzen bleibt, auf dem sein Käfig aufgehängt worden war, als vor einem, der eifrig flatternd ins Unbekannte fliegt.

Karl nutzt die Freiheit nicht, wie er auch nicht Mathildes fröhliche Gesprächsangebote annimmt, noch traut er seinen eigenen Gefühlen, Sehnsüchten und Träumen. Er legt stets einen verschrobenen Begriffsapparat über diese, sieht alles durch eine Brille, die ihn wie Scheuklappen an die eigenen Erwartungen festkettet. Marwan unterstreicht diese Geisteshaltung mit dem Netz aus literarischen Zitaten und Phrasen, mit denen sich Karl umgibt, also mit Götzen, die er aufbaut, um sich zu erhöhen und andere kleinzuhalten. Angefangen mit Molières Menschenfeind, über Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, zu Friedrich Nietzsches Ewiger Wiederkehr und Albert Camus‘ Mythos des Sisyphos, zur Winterreise von Franz Schubert und wieder zurück zur Astrophysik und Mathematik und formallogischen Metaphysik Platons und Aristoteles‘. Statt sie aber als Inspirationsquellen, als Wegbereiter, als Gebrauchsgegenstände zu verwenden, imitiert er sie, bestaunt sie und kniet vor ihnen nieder. Sie bleiben ihm wie Mathildes Liebe ganz äußerlich. Er räumt ihnen in seiner Welt keinen Platz ein. So eng, so fest prangt alles in ihm. Roland Barthes beschreibt dies in Fragmente einer Sprache der Liebe wie folgt:

Beschränktheit des Geistes: in Wirklichkeit lasse ich nichts vom Andern gelten, verstehe ich nichts von ihm. Alles, was am Anderen nicht mich betrifft, scheint mir fremd, feindselig; ich erlebe in bezug auf ihn also eine Mischung aus Entsetzen und Strenge: ich fürchte und verdamme das geliebte Wesen, sobald es nicht mehr mit seinem Bild übereinstimmt, an ihm »haftet«.

Roland Barthes aus: „Fragmente einer Sprache der Liebe“

Was fehlt, ist die Öffnung, das Sich-Einlassen, das Gewähren und Staunen. Trotz fortwährender Beteuerung in Briefen und Aussagen vermögen die Wörter nicht durch den inneren Panzer Karls zu dringen. Die Wörter sind atemlos. Sie folgen zu schnell aufeinander. Sie gleichen einem ratternden logischen Schluss, der stets nur Tautologie sein kann, keinen Zugewinn an Erkenntnis, Empfindung erlaubt, sondern nur kalte Arithmetik beinhaltet. Das Hastige und Besitzergreifende Karls zeigt sich im wiederholten Springen, im übereinandergelegten Hoffen und Erwarten, im vergangenheitsgesättigten Schwelgen und zukunftsersponnenen Sehnen. Stets ist Karl zu nah oder zu fern, kennt nur Fusion oder Separation. Er ist der Wiedergänger von Sören Kierkegaards Johannes. In Entweder-Oder schreibt dieser in Das Tagebuch des Verführers folgende Zeilen an seine Geliebte:

Meine Cordelia!

Du weißt, ich spreche gern mit mir selbst. In mir selber habe ich die interessanteste Person meiner Bekanntschaft gefunden. Zuweilen fürchtete ich, mir würde in diesen Unterredungen der Stoff ausgehen; die Furcht kenne ich jetzt nicht mehr, denn ich habe Dich. Mit mir spreche ich nun und alle Ewigkeit von Dir, von dem interessantesten Gegenstand mit dem interessantesten Menschen – ach, denn ich bin nur ein interessanter Mensch, Du der interessanteste Gegenstand.

Dein Johannes.

Sören Kierkegaard aus: „Entweder Oder“, Kapitel VIII.

Wie Johannes geht es Karl am Ende nur um die Eroberung Mathildes, also um den eigenen Wert, um die eigene Überlegenheit. In Karls wie Johannes Welt läuft alles auf Konflikt, Wettbewerb, Siegen und Verlieren hinaus. Marwan gestaltet diesen Topos voller Ironie und Beiläufigkeit, ohne Dramatik und Tragik, und konzipiert auf diese Weise eine eigene, literarische Selbstimmunisierungsstrategie, nämlich über diese Verhaltensweisen zu schreiben, als könnte man sie nicht verstehen, als wäre jeder Versuch, in ihnen Sinn erblicken zu wollen, von vornherein zum Scheitern verurteilt, und alles, was bleibt, ist trocken über sie zu berichten und sie als Ereignisabfolge in einem Kuriositätenkabinett stirnrunzelnd zur Kenntnis zu nehmen.

Aufmerksam geworden durch folgende Blogs:
literaturleuchtet
schiefgelesen
und literaturgefluester

tldr; eine Kurzrezension findet sich hier.

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